Retail-Banken brauchen radikalen Wandel beim Thema Nachhaltigkeit
Das Finanzsystem soll Teil der Bewältigung der Klimakrise sein. Doch bisher haben gerade Retail-Banken sich wenig damit auseinandergesetzt, wie sie Teil der Lösung werden. Es ist jedoch an der Zeit, dass ein radikaler Wandel in der Geschäftspolitik einsetzt, denn auch der unternehmerische Erfolg wird davon abhängen.
Wenn wir auf unsere Zukunft schauen, ist eines klar. “Radikaler Wandel” ist das neue Normal. Die Covid-Krise, geo-politische Neuordnung und die Entwicklung im Zinsumfeld sind nur drei Beispiele dafür. Dennoch: Blickt man auf die langfristigen Entwicklungen, sind manche tiefgreifenden Entwicklungen erstaunlich vorhersehbar. Wir wissen, dass die Klimakrise unsere Lebensweisen schon heute stark verändert. Wir wissen, dass künstliche Intelligenz unsere Arbeitswelt massiv auf den Kopf stellt. Diese Veränderungen stehen gerade erst am Anfang. Wir wissen, dass die jungen Generationen andere Vorstellungen von einer gelungenen Lebensgestaltung haben als die Alterskohorten zuvor. In diesem Lebensmodell spielt zum Beispiel die Work-Life-Balance eine viel größere Rolle als dies in der Lebenswirklichkeit ihrer Eltern- und Großelterngeneration der Fall war. Gleichzeitig sind junge Menschen, die zukünftig die Mehrzahl der weltweiten Kunden der meisten Branchen ausmachen werden, umwelt- und klimabewusster. Sie werden sich ihre Geschäftspartner*innen, dazu zählen auch Geldinstitute, danach aussuchen, wie ernst diese das Thema Nachhaltigkeit nehmen. Sie werden sich ein genaues Bild davon machen, ob die Banken ihre Verantwortung als Teil der Gesellschaft übernehmen.
Finanzsystem kann Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit liefern
Banken könnten und sollten als Vorreiter für Nachhaltigkeit agieren. Dies klingt ambitioniert. Aber was heißt das genau? Wenn wir bei den Themen “Geld” und “Investments” von Nachhaltigkeit sprechen, so sind in der Regel Finanzprodukte gemeint: zum Beispiel grüne Fonds, Aktien von Unternehmen, die nachhaltig agieren, Kredite für und Investments in Branchen, die Produkte wie Windräder oder Solarpaneele herstellen. Die Produktpalette ist ein zentraler Teil vom nachhaltigen Wirtschaften – ihre Wirkung ist der so genannte Handabdruck – und dürfte gerade bei Finanzinstituten den Löwenanteil des Impacts ausmachen. Doch zusätzlich müssen Finanzinstitute auch selbst nachhaltig werden, in ihrer Art zu wirtschaften, durch Verringerung ihres Fußabdrucks. Welche Kunden sollten schon von einer Retail-Bank, die als Unternehmen selbst nicht überzeugend nachhaltig agiert, grüne Produkte kaufen? Menschen stehen heute eine Vielzahl an vielfältigen Informationen zu Verfügung, die sie für die Frage nutzen, wem sie vertrauen können und wem sie zutrauen, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Fünf zentrale Punkte können Retail-Banken auf die nächste Stufe heben und zukunftsfähig machen.
Fünf Elemente bestimmen den Erfolg in der Zukunft
Integration von Nachhaltigkeit
ESG-Kriterien dürfen nicht nur für Produkte gelten, sondern für das gesamte Unternehmen. Wofür werden Kredite vergeben? Welche Projekte werden finanziert? Haben Männer und Frauen dieselben Aufstiegschancen und erhalten für gleiche Arbeit gleiches Gehalt? Die Anbieter*innen werden von den Kund*innen auf ihre Nachhaltigkeitsleistung bewertet werden. In ihren Produkten, aber auch in ihrer Arbeit und Aufstellung. Sie werden bereits heute daran gemessen. Nachhaltigkeit wird damit Grundvoraussetzung für den Erfolg – nicht nur wegen immer strengerer regulatorischer Vorgaben, sondern weil die Firmen- wie Privatkunden es mehr und mehr einfordern.
Megatrend Personalisierung
Menschen wollen zunehmend als Individuen wahrgenommen werden. Daher werden personalisierte Finanzprodukte, Investments, Kredite, Girokonten und Bezahlsysteme immer wichtiger. Was in England, den USA und in Asien längst Standard ist, kommt gerade erst nach Europa. Die amerikanische Großbank JPMorgan hat mit OpenInvest einen der führenden Anbieter für personalisierte Finanzprodukte gekauft. Die UBS kooperiert bereits mit dem Personalisierungs-Anbieter Ethic aus den USA, um das Personalisierungs-Konzept nach Europa exportieren.
Plattform-Strategien und Partnerschaftsmodelle
Wer über Nachhaltigkeit redet, muss über das Thema Bescheid wissen. Nicht oberflächlich, sondern mit tiefer Expertise. Dies erfordert völlig neue Skills. Dafür ist die Zusammenarbeit mit Experten aus anderen Disziplinen – insbesondere aus den Naturwissenschaften sowie aus der Datenerhebung und -auswertung – notwendig. Wer alles selbst machen will, wird bei allen Angeboten bestenfalls Mittelmaß liefern. Retail-Banken müssen sich also für Partnerschaften mit anderen Anbieter öffnen. Sonst werden sie im Laufe der Zeit von Apple, Amazon und Google oder anderen gefressen.
Nutzung der traditionellen Stärken
Die traditionellen Stärken klassischer Banken wie etwa ihre lokale Vernetzung und ihre Nähe zu den Kunden sind ein wertvolles Asset, doch sie werden zusätzliche Assets benötigen, die sie nicht allein aus sich heraus generieren können. Im Zentrum stehen die Kundenberater, die im Beratungsgespräch immer komplexere Anforderungen schultern müssen – seien es Fragen zur Wirkung eines Produktes, oder schlichtweg die Einhaltung komplexer regulatorischer Vorgaben. Dazu braucht es Technologie und Beratertools, die den Berater*innen erlauben, sich auf das zu konzentrieren, was sie stark macht. Die Kundenbeziehung.
Retail-Modell passt in die Welt von morgen
Kapital für Innovationen bereitzustellen, ist der erste Hebel des Finanzsystems, um Teil der Lösung zu werden. Hier gibt es heute schon viele Modelle, die sich inzwischen zu beträchtlichen Märkten entwickelt haben: Green Bonds, Private Equity, Risikokapital, Peer Lending, Mikrofinanzen, um nur ein paar zu nennen. Durch das Finanzsystem kann Kapital dorthin gelenkt werden, wo es mehr Nachhaltigkeit bewirkt. Diese Modelle helfen, die Innovationen zu schaffen, die wir für ein nachhaltiges Wirtschaftsmodell brauchen. Neben Innovation brauchen wir aber auch ein Upgrade der bestehenden Wirtschaft, hin zu Klimaverträglichkeit. Das ist der zweite Hebel des Finanzsystems, zum Beispiel durch Wahrnehmung von Eigentums- und Aktionärsrechten. Indem die Retail-Banken diese Hebel in Bewegung setzen, können sie die Herausforderungen, vor der wir alle stehen, meistern und Teil der Lösung werden.
Der Wandel ist bereits entbrannt, und er ist unumkehrbar. Allerdings kann man ihn nur meistern, wenn man sich auch selbst wandelt. Wer ihn mitgestaltet, hat enorme Chancen. Und Finanzinstitute in Europa sind gut beraten, diesen Wandel nicht allein dem Silicon Valley zu überlassen.